Seit Ende des letzten Jahres beschäftige ich mich intensiv mit der Rechtswissenschaft. Anfänglich nur seicht und ohne den Anspruch, eine akademische Laufbahn darin einzuschlagen. Die öffentlich zugänglichen Quellen reichten da auch zu Anfangs vollkommen aus und zum Glück gibt es auch Lehrende, die sich modernen Mitteln bedienen, um Ihre Lehren weiterzugeben (an dieser Stelle sei Prof. Dr. Lorenz von der LMU und sein Podcast löblichst erwähnt - bisher habe ich niemanden kennengelernt, der mit soviel Pathos und Spaß das BGB AT vermitteln kann).

Das änderte sich jedoch sehr schnell, als ich merkte, wie spannend die Rechtswissenschaft eigentlich tatsächlich ist. Wieviel sie über unsere Gesellschaft erzählt. Und über die Werte, die wir vertreten. Und über unseren zivilisatorischen Werdegang. Bei immer näherer Betrachtung wurde mir klarer, in was für einem grandiosen Rechtsstaat wir eigentlich leben und wie ehrwürdig die Rechtswissenschaftler eigentlich sind, die sich mit den Themen des täglichen Lebens sowohl auf subjektiver als auch auf objektiv abstrakter Ebene befassen, um das geltende Recht zu wahren und an die gesellschaftlichen Entwicklungen hin fortzubilden.

Das Studium und die Zeitschrift

Nun vollkommen davon überzeugt, diese Geisteswissenschaft ernsthaft zu studieren, belegte ich die entsprechenden Module Anfang des Jahres umgehend. Die akademische Auseinandersetzung mit dem Thema hat meine Begeisterung nur weiter angefeuert und mich auch dazu gebracht, mich mit den aktuellen Geschehnissen tiefergehend zu befassen. Allen voran mit zwei Zeitschriften des C.H.Beck Verlages: JA (Juristische Arbeitsblätter), eine Zeitschrift, die sich gezielt an Studierende richtet und die NJW (Neue Juristische Wochenschrift), eine wöchentlich erscheinende Zeitschrift mit aktuellen Themen, Rechtssprechungen und Aufsätzen. Gerade für mich als Neuling in der Szene bieten die beiden Schriften einen guten Überblick über die Probleme, die einerseits in der akademischen Lehre behandelt werden und andererseits in der alltäglichen Praxis entstehen.

“Cool and the Gang”

Am 27.08.2020 erschien das aktuellste Heft: 36/2020. In der Rubrik NJW-aktuell (eine etwas nicht so ganz ernst zunehmende Rubrik, wie mir scheint) erschien die “Entscheidung der Woche” von der Autorin Dr. Monika Spiekermann. Der kurze Bericht trägt den Titel “Cool and the Gang”, in dem es um das Fehlverhalten eines Polizeianwärters geht. Der Fall an sich ist, ehrlich gesagt, völlig unspektakulär, da es hier lediglich um einen sprachlichen Fehltritt eines jungen Mannes geht, der vor einem Kommilitonen prahlen wollte und damit eine rote Linie übertrat. Was genau diesen Fall zur Entscheidung der Woche macht, erklärt der Bericht leider nicht.

Die Botschaft, die der Text aber vermittelt, ist viel interessanter als der Fall selbst, der in lediglich 3-5 Sätzen abgehandelt wird.

Eingeleitet wird der Text damit, dass ein Lob auf die Schönheit der deutschen Sprache ausgesprochen wird. Dies sei “gemeinhin” bekannt. Nur hätten “die Generationen, die in den nächsten Jahren dafür sorgen sollen, dass unsere Rente sicher ist” dies nicht erkannt und würden sich lieber “Heroen der Rap-Szene” ergeben, als ihren Wortschatz mit Sätzen von Werken von Thomas Mann zu füllen. Der Zustand der Sprache dieser Generationen sei auch wohl so richtig übel. “Deshalb sind wir fast ein wenig erleichtert, dass Thomas Mann vor 65 Jahren in der Schweiz verstarb”, schreibt die Autorin, ohne zu erläutern, wer “wir” eigentlich ist. Auch ist sie davon überzeugt, dass eine Verwendung der Sprache, wie Thomas Mann sie verwendete, “weitesgehend vor strafrechtlicher Verfolgung” schütze.

Nachdem mehr als die Hälfte des Textes aus solchen fachfremden Wertungen bestehen, kommt die Autorin letztlich zum eigentlichen Fall. Ein junger Mann und Polizeianwärter hat sich daneben benommen, als dieser eine attraktive Frau sah. Der unpassende Spruch “Der würd’ ich geben, der Kahba”, hat dazu geführt, dass das KG Berlin hier eine Entscheidung herbeiführen musste.

Die Erläuterung des Falls fand im dritten Viertel des Textes statt. Im letzten Viertel versuchte die Autorin noch Tipps mitzugeben, wie man sich denn an junge Frauen ran machen könnte. “Locken Sie doch mal mit voll krassen Champagner-Feten” lautet da ihre erfolgsgarantierte Empfehlung.

Um ehrlich zu sein konnte ich nicht fassen, dass ich hier gerade noch eine ernstzunehmende Fachzeitschrift in den Händen hielt. Wurde die NJW plötzlich zur BILD der Juristischen Fachblätter? Habe ich das von vornherein falsch verstanden, was den Ruf der NJW betrifft? Die NJW wird doch so oft zitiert… ich muss mich doch vertan haben… oder ist das etwa das Niveau der Juristen in Deutschland? Sich in der Form in Fachblättern über andere Gesellschaftsgruppen zu echauffieren und so von oben herab zu sprechen?

Fehltritt 1: Verallgemeinerung

Zunächst einmal überraschte mich die krasse Verallgemeinerung, die nachkommende Generation würde sich lediglich an der Rap-Szene orientieren und dort ihre sprachliche Bildung erfahren. Zum Hintergrund: Die Kulturströmung des Hip-Hops entsprang den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts aus dicht besiedelten urbanen Bereichen US-amerikanischer Großstädte. Die Subkultur gebar sich selbst also einem immer größer werdenen Proletariat, welches sich von den Intellektuellen abgekapselt fühlte. In Deutschland gab und gibt es diese starke Ghettorisierung in der Form (wie z. B. in der Bronx der 60er) nicht, dennoch hat die Kulturströmung als musikalisches Genre in den 90ern ihren Einzug gefunden.

Der junge Mann hat, laut dem Text von Frau Dr. Spiekermann, den Spruch gebracht: “Der würd’ ich geben, der Kahba”. Diesen richtete er an seinen Kollegen und wurde für diesen regelmäßig gemaßregelt. Ob der Protagonist Rap-Fan war, ist fraglich. Denn dieser Satz ist mitnichten mit einer konkreten Rap-Szene verknüpft, von denen es übrigens auch viele unterschiedliche Ausprägungen und Strömungen gibt. Mir ist nur unklar, wie hier die Ableitung gemacht wird, der junge Mann sei also Rap-Fan, alle Rap-Fans würden so sprechen, wie sie singen/sprechen, und alle künftigen Rentenzahler würde sich so verhalten. In den Augen der Autorin muss diese Menge an Rap-Fans eine kritische Masse erreicht haben, sodass diese ernsthafte Sorgen damit zum Ausdruck bringen möchte. Selbst mit unserem hochgehaltenem Justiz-Syllogismus komme ich dieser Schlussfolgerung nicht auf die Spur.

Fehltritt 2: Die künftigen Rentenzahler

Schockiert hat mich die Benennung der angesprochenen Gruppe (nächste Generationen) als die zukünftigen Rentenzahler. Mir war nicht klar, dass sich die aktiven Juristen heute so sehr um die Finanzierung im Alter sorgen machen müssen, dass die einzige Deklarierung, die in einem solchen Text in Frage kommt, die der kommenden Rentenzahler ist. Gerade von den kommenden Generationen erhoffe ich mir persönlich viel, da sich weder meine Generation noch die Generation meiner Eltern so früh und so ernsthaft um der Zukunft unserer Gesellschaft und unseres Planeten gekümmert hat. Alte Werte werden neu bewertet und die Frage nach dem “Weiter so” wird so stark diskutiert, wie schon seit vielen Jahrzehnten nicht mehr. Unsere Welt ist in guten Händen. Unterstützen wir die Generationen dabei, anstatt sie so herabzusetzen und sie lediglich als die Arbeiter zu betrachten, die des Juristen a. D. Porsche abzahlen.

Fehltritt 3: Beziehungstipps

Offenbar hat Frau Dr. Monika Spiekermann einen ganz klaren Geschmack bei Männern. Mit einer Champagner-Fete lässt sie sich wohl schnell um den Finger wickeln. Denn genau das empfiehlt sie auch den Leuten, um die es diesem Text geht (den sie aber vermutlich nie lesen werden): Allen “hormongesteuerten Gang-Slang-Anhänger”. Offenbar reicht die Vermessung der Juristen weiter über das hinaus, was im Allgemeinen bekannt ist: Die völlige Entfremdung der realen Gesellschaftsentwicklung. Was genau junge, alte, dicke oder dünne Damen und Herren anspricht, ist eine völlig subjektive Sache, die sich überhaupt nicht durch plumpe Verallgemeinerungen beschreiben lässt. Und auch wenn dem einen oder der anderen ein guter Champagner durch so einen Abend hilft, ist Alkohol gewiss nicht die beste Lösung für brunftbezogene Problemstellungen.

Fehltritt 4: Die verwendete Sprache und die Folgen

Auch bedenkenswert ist die Äußerung von Frau Dr. Spiekermann, dass die Verwendung bestimmter sprachlicher Mittel tendenziell eher dazu führen könne, strafrechtliche Probleme zu bekommen: “[…] der sich besonders für cool hält und das mit den übelsten Zitaten aus einem Hit der Rapsong-Charts untermauert. Das führt meist zum nächsten Strafrichter.”, so die Meinung der Autorin. Ich bin mir ziemlich sicher, dass man auch mit dem Wortschatz eines Thomas Mann Beleidigungen aussprechen kann, die strafrechtliche Konsequenzen mit sich ziehen würden, sofern die beleidigte Person diese im vollen Umfang versteht. Meines Erachtens nach hat aber so eine verallgemeinerte Äußerung, die an dem “Wenn sie kurze Röcke trägt, braucht sie sich nicht wundern”-Niveau ganz stark kratzt, in einem Fachartikel nichts zu suchen. Vor allem nicht in diesem Kontext, der klar diskreditierend ist.

Fazit

Ich frage mich ernsthaft, was genau diesen Artikel eigentlich qualifiziert hat, in der NJW zu erscheinen und dann noch unter dem Tag: “Entscheidung der Woche”. Egal, ob Kolumne oder nicht.

Ist es eigentlich korrekt, dass Juristen sich so derart über andere in Fachzeitschriften her machen? Vor allem auch dann, wenn die besprochenen Gruppen diese Texte vermutlich nie lesen werden? Woher kommt diese Hochnäsigkeit, mit der hier der Text gerechtfertigt wird? Ist das das Bild, welches Juristen über sich selbst und ihre Geisteswissenschaft in die Öffentlichkeit transportieren wollen?

Meine Meinung dazu ist klar: Nein. Als Rechtswissenschaftler, aber vor allem als Wissenschaftler, haben wir die Aufgabe, das Recht zu diskutieren, weiter zu entwickeln und die Mitglieder unserer Gesellschaft, auch und gerade in ihrer gesamten Diversität, zu schützen. Wir sollten die Rechtswissenschaft zugänglicher gestalten, als offene und transparente Geistes-Disziplin feiern und die Ehrwürdigkeit und den Respekt an ihrem Telos wahren. Aber die Mauern, die Frau Dr. Monika Spiekermann in ihrem Bericht baut, sollten wir so nicht hochziehen. Unqualifizierte Vorurteile gegenüber anderen sollten wir keinen Platz einräumen.

Ulpian definierte die Jurisprudenz einst wie folgt: Iuris prudentia est divinarum atque humanarum rerum notitia, iusti atque iniusti scientia. (zu deutsch: “Jurisprudenz ist die Kenntnis der menschlichen und göttlichen Dinge, die Wissenschaft vom Gerechten und Ungerechten”).

Daran sollten wir uns vielleicht orientieren.